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Genregulierung durch zwischenmenschliche Erfahrungen

Ich zitiere hier aus dem Buch von Joachim Bauer: "Das Gedächtnis des Körpers" - Wie Beziehungen und Lebensstile unser Gene steuern.

ZUSAMMENFASSUNG Kap. 3 (S. 23)

Gene sind keine Autisten, also keine Eigenbrötler ohne Kontakt zur Außenwelt. Gene stehen in permanentem Kontakt zur Umwelt, um die Körperfunktionen an die jeweiligen Erfordernisse anpassen zu können. Jedes Gen hat Genschalter, die in der Fachsprache als Promoter und Enhancer bezeichnet werden. Von außen kommende Signale erzeugen eine Stimulation von Körperzellen, die u. a. dazu führen, dass im Inneren der Zelle Signalstoffe (so genannte Transkriptionsfaktoren) aktiviert werden, die an Genschalter binden, wodurch die Aktivität der nachgeschalteten Gene erhöht oder erniedrigt werden kann. Die Fähigkeit des Körpers, die Aktivität seiner Gene an die momentane Situation bzw. an die jeweiligen Umweltbedingungen anzupassen, wird als Genregulation bezeichnet. Zwischenmenschliche Erfahrungen und psychische Prozesse werden vom Gehirn in biologische Signale, z.B. in die Ausschüttung von Nervenbotenstoffen, umgewandelt. Botenstoffe des Gehirns sind in der Lage, sowohl im Gehirn selbst als auch im Körper zahlreiche Gene zu regulieren. Obwohl diese Zusammenhänge bereits seit einiger Zeit grundsätzlich bekannt sind, konnte eine deutsch-amerikanische Forschergruppe um Angelika Bierhaus und Clemens Kirschbaum kürzlich den ultimativen Nachweis dafür erbringen, dass psychosozialer Stress direkt Transkriptionsfaktoren aktivieren und die Genaktivität regulieren kann.

ZUSAMMENFASSUNG Kap. 4 (S. 34)

Angst, Gefahrensituation und der damit einhergehende seelische Stress führen im Gehirn zur Aktivierung einer »Familie« von Stress­genen. Die Produkte dieser Stressgene haben körperliche Reaktionen zur Folge. Die Auswirkungen erstrecken sich, wie in wissen­schaftlichen Untersuchungen belegt wurde, unter anderem auf das Herz- und Kreislaufsystem sowie auf das Immunsystem und ver­schlechtern bei zahlreichen bereits bestehenden körperlichen Erkrankungen den Verlauf. Darüber hinaus haben die Produkte aktivierter Stressgene in nachhaltiger Weise Rückwirkungen auf das Organ, welches die Stressgen-Kette aktiviert: das Gehirn. Hier zeigen zahlreiche Studien, dass Stress- und Belastungserlebnisse eine nachhaltige schädigende Wirkung auf Nervenzell-Strukturen ausüben können

ZUSAMMENFASSUNG Kap. 5 (S. 50-51)

Die biologische Reaktion auf Belastungen (Stress) ist von Person zu Person unterschiedlich. Entscheidend für die seelische und körperli­che Reaktion auf eine äußere Situation ist - von Extremsituationen abgesehen - nicht die »objektive« Lage, sondern die subjektive Be­wertung durch die Seele und durch das Gehirn. Die Bewertung aktueller, neuer Situationen erfolgt durch die Großhirnrinde und das mit ihr verbundene limbische System (das eine Art »Zentrum für emotionale Intelligenz« darstellt). Wie die Bewertung ausfällt, hängt von Vorerfahrungen ab, die das Individuum in ähnlichen Situationen gemacht hat, die in Nervenzell-Netzwerken gespeichert sind und mit denen das Gehirn die aktuelle Situation abgleicht. Aufgrund der Unterschiede individueller Biografien fällt dieser Abgleich, auch wenn eine aktuelle Situation »objektiv« identisch ist, von Person zu Person verschieden aus.

Wird eine aktuelle äußere Situation aufgrund von Vorerfahrungen in ähnlichen früheren Situationen von der Großhirnrinde und dem limbischen System als alarmierend eingeschätzt, so werden unter »Federführung« des Mandelkerns (der Amygdala), der zum limbischen System gehört, die Alarmzentren des Gehirns (Hypothalamus und Hirnstamm) aktiviert, die ihrerseits massive Körperreaktionen in Gang setzen. Da äußere Situationen jedoch, wie bereits ausgeführt, individuell verschieden bewertet werden, fällt auch das Ausmaß der Aktivierung von Alarmsystemen durch den Mandelkern {Amygdala) von Person zu Person sehr unterschiedlich aus – auch dann, wenn die äußere Situation »objektiv« die gleiche ist. Wie wissenschaftliche Studien zeigten, hinterlassen früh nach der Geburt gemachte Erfahrungen von sicherer Bindung zu Bezugspersonen im biologischen Stresssystem einen Schutz, sodass die biologische Stressreaktion auf später im Leben auftretende Belastungsereignisse »im Rahmen« bleibt. Umgekehrt haben frühe Erfahrungen von Stress eine erhöhte Empfindlichkeit (»Sensibilisierung«) des biologischen Stresssystems zur Folge. Sichere Bindungen schützen jedoch nicht nur das Kind vor Stress. Soziale Unterstützung und zwischenmenschliche Beziehungen bleiben das ganze Leben hindurch der entscheidende Schutzfaktor gegenüber übersteigerten und potenziell gesundheitsgefährdenden Folgen der Stressreaktionen.

WARUM KINDER KEIN ELEND ERLEIDEN DÜRFEN (S. 70)

Weitaus schwerere Störungen als die jener Kinder, deren Mütter im Wochenbett eine schwere Erkrankung erlitten, finden sich bei Kindern, die durch soziale Not oder familiäre Missstände einer massiven Vernachlässigung, Verwahrlosung oder gar Misshandlungen ausgesetzt sind. Hier zeigen sich nach neueren Untersuchungen oft schwere Beeinträchtigungen der Lernfähigkeit, des Sozialverhaltens, schließlich auch hier Veränderungen der Hirnstromkurve (EEG). Zu dem ergaben mehrere Untersuchungen aber auch darüber hinausgehende neurobiologische Auffälligkeiten bis hin zu einer Verminderung des Gehirnvolumens. Die Sicherung einer konstanten, fürsorglichen und liebevollen Betreuung für Kinder ist daher nicht nur ein humanes und soziales Erfordernis, sondern auch eine Voraussetzung für eine ungestörte neurobiologische Entwicklung des Kindes.

ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SEELE (S.210-212)

Bisherige Beziehungserfahrungen und gegenwärtige Muster der aktuellen Beziehungsgestaltung eines Menschen sind, wie Untersuchungen mit modernen Methoden der Neurobiologie zeigen, in Nervenzell-Netzwerken des Gehirns gespeichert. Die Beeinflussung der Entwicklung von Seele, Gehirn und Körper durch zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen beginnt kurz nach der Geburt. Wie exakte Beobachtungen und experimentelle Studien ergaben, reichen einige wenige Begegnungen des Säug­lings mit dem Gesicht der Mutter, mit ihrer Stimme und ihren Gerüchen aus, um diese Eindrücke in Nervenzell-Netzwerken des Säuglings so ein­zuspeichern, dass er in der Lage ist, die Mutter von anderen Personen zu unterscheiden. Der Austausch von Signalen durch Mimik, Stimme und die dargebotene Brust führen zur Ausbildung einer emotionalen Bindung. Die zur Ausbildung dieser Bindung notwendigen Lernvorgänge seitens des Säuglings führen zur Entstehung von Nervenzell-Verknüpfungen

(Synapsen) und zur Ausbildung von entsprechenden Netzwerken in der Großhirnrinde (dort vor allem im so genannten assoziativen Cortex) sowie im limbischen System, dem »Zentrum für emotionale Intelligenz«.

Bei der Einspeicherung von mütterlichen Signalen hilft dem Säugling ein erst vor kurzem vom italienischen Neurobiologen Giacomo Rizzolatti und vom kanadischen Hirnforscher William Hutchison entdecktes »Spiegel-System«: Durch so genannte »Spiegel-Neurone« (Spiegel-Nervenzellen) kann das Gehirn in der Außenwelt wahrgenommene Vorgänge so speichern, dass der betreffende Vorgang (im Falle des Säuglings wäre dies z.B. ein Stimmlaut oder eine mimische Bewegung) selbst reproduziert werden kann. William Hutchisons Entdeckung war, dass es im limbischen System Spiegel-Neurone auch für Gefühle gibt, die es ermöglichen, die Erfahrung von emotionaler Anteilnahme und Mitgefühl in Nervenzell-Netzwerken zu speichern - als Voraussetzung dafür, selbst zur Empathie fähig zu sein.

Falls der Säugling keine Beziehungsangebote erhält, gibt es auch nichts zu speichern, woraus sich schwere Entwicklungsstörungen der Seele und des Gehirns ergeben können. Ein adäquates Reizangebot seitens der Mutter oder einer anderen konstanten, liebevollen Bezugsperson hat nicht nur die seelische Reifung des Kindes, sondern auch die Aktivierung von zahlreichen Wachstumsgenen und den Aufbau einer dichten synaptischen Verschaltung der Nervenzellen seines Gehirns zur Folge.

Fehlende Beziehungen, ersatzlose Trennung von der Mutter und Reizverarmung führen, wie zahlreiche Studien zeigen konnten, zum einen zu schweren seelischen Symptomen und zum anderen zu einem massiven Verlust von Nervenzellen, zur Degeneration von Nervenzell-Fortsätzen und zum Synapsenverlust. Dies ist durch wissenschaftlich einwandfreie Beobachtungen belegt, unter anderem durch neuere Arbeiten von Gerd Poeggel und Katharina Braun (Leipzig, Magdeburg), Elizabeth Gould (Princeton, USA) sowie Masumi Ichikawa (Japan), außerdem durch eine ältere, »klassische« Studie des US-Neurobiologen Robert Struble (USA).

Seine noch so fantastische genetische Ausstattung hilft dem Säugling also nichts, wenn es keine Umwelt und keine zwischenmenschlichen Beziehungen gibt, die den genetischen Apparat aktivieren. Die Netzwerke, die beim Säugling aus der gemeinsam mit der Mutter (und mit anderen) gestalteten Beziehung entstehen, bauen nach und nach das Programm auf, nach dem das Kind seine eigenen Beziehungsaktivitäten gestaltet (wodurch sich seine Netzwerke weiter verändern).