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Eine Fabel 

        Einmal, vor langer Zeit, kam das zivilisierte Leben in New York beinahe zum Stillstand. Die Straßen waren von Unrat und Schmutz übersät, und weit und breit war niemand zu sehen, der sie reinigte. Die Luft und die Flüsse waren verpestet, und niemand fand sich, der sie hätte säubern können. Die Schulen waren heruntergekommen, und niemand glaubte mehr an sie. Jeder Tag brachte einen neuen Streik, und jeder Streik bedeutete neue Lasten für die Menschen der Stadt. Verbrechen und Zwietracht und Unordnung und Unhöflichkeit herrschten, wohin man blickte. Die Jungen wandten sich gegen die Alten. Die Arbeiter gegen die Studenten. Die Stadt war bankrott.

        Als ihre Verzweiflung einen Höhepunkt erreicht hatte, trafen sich die Stadtväter, um zu überlegen, was sie tun konnten. Aber ihnen fiel kein Rezept ein, sie selbst waren mutlos, und ihre Phantasie war durch Hass und Verwirrung gelähmt. Dem Bürgermeister blieb nichts anderes übrig, als den Notstand auszurufen. Er hatte dies zuvor bei Schneestürmen und Elektrizitätsausfällen getan, aber jetzt, meinte er, sei dies ebenso berechtigt. »Unsere Stadt«, sagte er, »wird belagert - wie die antiken Städte Jericho und Troja. Aber unsere Feinde sind Trägheit und Armut, Gleichgültigkeit und Hass.«

        Wie ihr seht, war er ein sehr weiser Bürgermeister, aber nicht weise genug, um einen Weg zu finden, diese Feinde zu besiegen. Also lebte die Stadt offiziell im Notstand, und weder der Bürgermeister noch sonst jemand wusste einen Rat, wie man die Lage verbessern konnte. Aber dann geschah etwas Außergewöhnliches.

        Einer der Mitarbeiter des Bürgermeisters, der wusste, was die Stadt erwartete, hatte sich entschlossen, mit seiner Familie aufs Land zu flüchten. Um sich auf seinen Umzug in diese fremde Umgebung vorzubereiten, las er Henry David Thoreaus Walden. Man hatte ihm gesagt, dies sei ein Handbuch für das Überleben in der Natur. Bei der Lektüre stieß er auf die folgende Passage: »Schüler sollten das Leben nicht nachspielen oder es nur studieren, während die Gemeinde sie bei diesem teuren Spiel versorgt, sie sollten es ernsthaft vom Anfang bis zum Ende leben. Wie könnten Jugendliche besser lernen, als indem sie ab sofort das Experiment des Lebens erprobten?«

        Der Mitarbeiter des Bürgermeisters spürte sofort, dass er da auf eine außerordentliche Idee gestoßen war. Er zeigte den Absatz dem Bürgermeister, der sehr traurig war und nicht in der Stimmung, Bücher zu lesen, da er bereits viele weise Bücher auf der Suche nach Rat und Hilfe durchforscht und nichts gefunden hatte.

        »Was soll das heißen?« fragte der Bürgermeister erzürnt.  

      »Das ist der Weg zu unserer Rettung«, antwortete sein Mitarbeiter.

        Dann erklärte er dem Bürgermeister, dass die Schülerinnen und Schüler der öffentlichen Schulen bisher ein Teil des Problems gewesen waren, während sie doch mit einiger Phantasie sehr leicht Teil der Lösung werden konnten. Er wies darauf hin, dass sich in der Junior High School und der Senior High School zusammen annähernd 400000 kräftige, energische junge Männer und Frauen befanden, die man als Einsatzkräfte gebrauchen könne, um die Stadt wieder bewohnbar zu machen.

      »Aber wie können wir sie einsetzen?« fragte der Bürgermeister. »Und was geschähe mit ihrer Erziehung, wenn wir es täten?«

        Darauf antwortete der Mitarbeiter: »Sie werden ihre Erziehung darin finden, dass sie ihre Stadt retten. Und was ihre Lektionen in der Schule betrifft, so haben wir viele Hinweise darauf, dass sie sie nicht sonderlich schätzen und sich ständig gegen ihre Lehrer und die Schule auflehnen. « Der Mitarbeiter, der mit Statistiken bewaffnet zum Bürgermeister gekommen war (wie es Mitarbeiter so tun), verwies darauf, dass die Stadt jedes Jahr eine Million Dollar ausgab, nur um zerbrochene Fensterscheiben in den Schulen zu reparieren, und dass fast ein Drittel der Schüler und Schülerinnen zum Unterricht überhaupt nicht mehr erschien.  

      »Ja, ich weiß», sagte der Bürgermeister. »Schrecklich.«

        »Falsch«, sagte der Mitarbeiter barsch. »Die Langeweile und Destruktivität und unterdrückte Energie, die ein Fluch sind, können wir zu unserem Nutzen wenden.«

        Der Bürgermeister war nicht ganz überzeugt, aber da er selbst keine bessere Idee hatte, ernannte er seinen Mitarbeiter zum Vorsitzenden eines Notstandserziehungskomitees. Der Mitarbeiter machte sofort Pläne, die fast 400000 Schüler und Schülerinnen aus ihren trostlosen Klassenzimmern herauszuholen, um ihre Energien und Talente dazu zu nutzen, die Stadt wiederherzustellen.

        Als diese Pläne bekannt wurden, gab es einen großen Aufschrei gegen sie, denn Menschen im Unglück ziehen manchmal ein vertrautes Problem einer unbekannten Lösung vor. Die Lehrer zum Beispiel beschwerten sich darüber, dass in ihren Verträgen nichts von solch ungewöhnlichen Maßnahmen stand. Darauf antwortete der Mitarbeiter, dass der Geist ihrer Verträge sie dazu verpflichte, bei der Erziehung der Jugendlichen mitzuhelfen, und dass die Erziehung viele Formen annehmen und an vielen Orten vorgenommen werden könne. »In keinem heiligen Buch«, sagte er, »steht, dass die Erziehung in einem kleinen Raum mit Stühlen darin stattfinden muss.«  

      Einige Eltern klagten, der Plan sei unamerikanisch und der Zwang, den er ausübe, verstieße gegen ihre Freiheit. Darauf erwiderte der Mitarbeiter des Bürgermeisters, der Plan fuße auf Praktiken früherer Amerikaner, die ihre Kinder zu bestimmten Tätigkeiten heranzogen, um das Überleben der Gruppe zu sichern. »Unsere Schulen«, sagte er, »haben immer ohne zu zögern Zwang ausgeübt. Die Frage ist nicht und ist es nie gewesen, ob man jemanden zwingt oder nicht zwingt, sondern zu was man jemanden zwingt.«  

      Und sogar ein paar Kinder beklagten sich, wenn auch nicht viele. Sie sagten, ihr gottgegebenes Recht, zwölf Jahre lang auf Kosten der Öffentlichkeit in einem Klassenzimmer zu sitzen, werde missachtet. Auf diese Beschwerde erwiderte der Mitarbeiter des Bürgermeisters, dass sie Opfer eines Missverständnisses seien und einen Luxus mit einem Recht verwechselten. Die Gemeinde aber könne sich weder das eine noch das andere weiter leisten. »Außerdem«, fügte er hinzu, »unter allen gottgegebenen Rechten, die der Mensch bisher entdeckt hat, hat keines den Vorrang vor dem Recht zu überleben.«  

      Auf die Weise wurde der neue Lehrplan der öffentlichen Schulen von New York als »Operation Überleben« bekannt, und alle Kinder von der siebten bis zur zwölften Klasse nahmen daran teil. Und dies sind einige der Dinge, die sie tun mussten:  

        Am Montagmorgen jeder Woche mussten alle 400000 Kinder helfen, ihre Viertel zu säubern. Sie fegten die Straßen, warfen Abfall in die Mülleimer, beseitigten Schmutz von leeren Grundstücken und wuschen Graffiti von den Wänden. Der Mittwochmorgen war für die Verschönerung der Stadt reserviert. Schüler pflanzten Bäume und Blumen, pflegten Büsche und mähten Gras, strichen Wände in den U-Bahnhöfen und renovierten sogar heruntergekommene Gebäude, wobei sie mit ihren eigenen Schulen anfingen.  

      Jeden Tag wurde etwa fünftausend Schülern die Verantwortung übertragen, den Straßenverkehr zu regeln, was eine Menge Polizisten für andere Aufgaben freisetzte. Jeden Tag halfen weitere fünftausend Schüler, die Post auszutragen, so dass es - wie in früheren Tagen - bald möglich war, die Post zweimal am Tag zuzustellen.

        Mehrere tausend Schüler wurden dazu eingesetzt, Kindertagesstätten aufzubauen und zu führen, so dass junge Mütter, die bisher von der Wohlfahrt gelebt hatten, in der Lage waren, sich bezahlte Arbeit zu suchen. Jedem älteren Schüler wurde überdies die Verantwortung für zwei Grundschüler übertragen, denen er dienstags und donnerstags nachmittags Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen hatte. Zwanzigtausend Schüler und Schülerinnen wurden aufgefordert, an einem Nachmittag der Woche die Arbeit eines Erwachsenen zu übernehmen, soweit das in ihren Kräften stand. Die Erwachsenen waren dadurch frei, eine Schule zu besuchen oder, wenn sie es vorzogen, den Schülern bei ihren Bemühungen, die Stadt zu retten, zu helfen.  

      Den Schülern wurde auch die Aufgabe übertragen, in jedem Stadtviertel eine Zeitung herauszugeben, in der sie vor allem Informationen verbreiten sollten, die Bürger für ihr Leben brauchten. Schüler organisierten Konferenzen, Straßenfeste und Rockfestivals, und sie begründeten in jedem Stadtviertel ein Orchester und eine Theatertruppe. Einige Schüler halfen in Krankenhäusern aus oder bei der Registrierung von Wählern, oder sie produzierten Radio- und Fernsehprogramme, die von den Sendern in der Stadt ausgestrahlt wurden. Es war immer noch Zeit genug übrig, auch eine »Stadtolympiade« zu veranstalten, an der jedes Kind in der einen oder anderen Sportart teilnehmen konnte.

        Wie zu erwarten war, wollten nun auch die Collegestudenten an dem Programm teilnehmen, und so standen weitere hunderttausend junge Leute für den Gemeindedienst zur Verfügung. Die Collegestudenten entwickelten ein halböffentliches Verkehrssystem zwischen den Vorstädten und dem Zentrum. Sie gebrauchten dafür ihre eigenen Wagen, das Benzin zahlte die Stadt, und auf diese Weise wurden die U-Bahnen entlastet, und weniger Autos kamen nach Manhattan herein, was die Luftverschmutzung verminderte.

        Collegestudenten wurden ermächtigt, Strafscheine für falsches Parken und das Wegwerfen von Abfällen zu schreiben. Es wurde ihnen erlaubt, Seminare zu organisieren, Filmfestivals und Lehrveranstaltungen für Schüler und Schülerinnen von den Junior und Senior High Schools. Auf einem Fernsehkanal, der ihnen zu diesem Zweck zugestanden wurde, sendeten sie jeden Tag von 15 bis 22 Uhr Kurse für Fortgeschrittene in einer Reihe von Fächern. Sie halfen auch mit, Drogenrehabilitationszentren aufzubauen und sie zu führen, und sie starteten Kampagnen, um Menschen über ihre Rechte aufzuklären, sie auf gesundheitliche Gefahren hinzuweisen und ähnliches.

        Nicht alle Probleme der Stadt wurden gelöst. Aber verschiedene außerordentliche Dinge geschahen. Die Stadt lebte auf, und ihre Bürger schöpften wieder Hoffnung. Junge Leute, die von ihrer Umgebung entfremdet gelebt hatten, entwickelten nun ein persönliches Interesse an ihrem Viertel. Ältere Menschen, die die Jugendlichen als ungezogen und parasitär angesehen hatten, begannen sie nun zu achten. Der Umgang miteinander wurde besser, und es war sogar ein Rückgang der Kriminalität festzustellen.

        Erstaunlicherweise empfanden die meisten Schüler gar nicht, dass sie »erzogen« wurden. Sie lebten ihre Lektionen, ihre Soziallehre, ihre Geographie, ihre Biologie und viele andere Dinge. Vor allem aber begriffen sie, dass jeder sich gleichberechtigt und gleichverantwortlich an der Schaffung einer lebenswerten Stadt beteiligen musste, egal was er oder sie später einmal werden wollte. Es erwies sich sogar, dass auch die älteren Leute, berührt vom Beispiel der Jungen, ein neues Interesse an der Wiederherstellung ihrer Umwelt entwickelten.

        Nun wäre es aber töricht zu leugnen, dass dieses ganze Abenteuer auch Probleme mit sich brachte. Tausende Kinder, die ansonsten gelernt hätten, welches der größte Fluss von Uruguay war, mussten ihr Leben verbringen, ohne diese oder ähnliche geographische Tatsachen zu kennen. Hunderte von Lehrern hatten das Gefühl, dass ihre Ausbildung umsonst gewesen war, da sie sich eine Erziehung von Kindern nur in Klassenräumen vorstellen konnten. Wie man sich ausmalen kann, war es auch extrem schwer, schulische Leistungen unter diesen Umständen zu bewerten, und nach einer Weile gab man Klausuren und Zensuren einfach auf. Das machte viele Menschen aus vielen Gründen unglücklich. Am meisten bedauert wurde die Tatsache, dass dumme Kinder von klugen nicht mehr zu unterscheiden waren.

        Aber der Bürgermeister, der trotz allem ein sehr intelligenter Politiker war, versprach, dass man nach Beendigung des Notstandes wieder zum alten Zustand zurückkehren werde. Inzwischen aber lebten alle sehr glücklich vor sich hin - in einem Notstand, bei dem von Not nicht mehr viel zu spüren war.

  Aus: Neil Postman: Keine Götter mehr, S. 117 ff.

 

Es ist schon bemerkenswert, dass Postman seine Botschaft fast verschämt als Fabel in sein Buch aufnehmen muss, obwohl Konfuzius vor 2500 Jahren das gleiche gesagt hat und in dem Ausdruck "begreifen" (englisch "grasp") bis heute in der Umgangssprache dieses Wissen vorhanden ist. 

Die Vorstellung, dass Menschen durch Belehrung viel lernen könnten, ist zu fest in den Köpfen verwurzelt. Sie wurde über Jahrhunderte rigider Erziehung in die Menschen hinein erzogen und geprügelt, so dass nur wenige sich trauen, wirklich und konsequent davon abzugehen.