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Unser Bildungssystem 

Rainald Irmscher, 1993, überarbeitet 2003

In verschiedenen Zweigen der Wirtschaft geht man seit einiger Zeit immer mehr zu Teamarbeit über  weil sie effektiver ist. (leider Schnee von gestern, s.u.* ) Ich habe immer wieder erlebt, dass auch Schule effektiver wird, wenn  in kleinen Gruppen gearbeitet wird, und dabei wie in einer Firma etwas geleistet wird, auf das die Schüler stolz sein können.

Ohne praktische Anwendung kann ich den meisten Schülern nicht glaubhaft machen, dass es sich wirklich lohnt, den "Stoff" zu lernen, sie behalten ihn auch selten viel länger als bis zur Klassenarbeit.  

Auch die Kosten-Nutzen-Relation würde günstiger, wenn Schüler sinnvoller unterrichtet würden, aber über die Kosten möchte ich an dieser Stelle nicht schreiben, auch nicht darüber, dass Schule besser auf die sich verändernden Arbeitsbedingungen vorbereiten müsste. Mir geht es zunächst darum, deutlich zu machen, wie unmenschlich Schule immer noch ist, weil das meines Erachtens neben der geringen Effizienz die Hauptursache für die enorme gesundheitliche Belastung von Lehrern ist. 

Wenn Kinder sich gemäß der Schulpflicht in der Schule aufhalten müssen, ist die Schule verpflichtet, ihnen eine Atmosphäre zu bieten, in der sie sich wohlfühIen können, andernfalls ist meiner Meinung nach der Tatbestand der Freiheitsberaubung gegeben.

Wer ein Tier hält, ist moralisch und vom Gesetz her verpflichtet zu einer artgerechten Haltung. Die Tiere sollen möglichst glücklich sein. Aber für Kinder lässt der Gesetzgeber (und lassen wir) zu, dass sie in einer Weise in Schulen untergebracht werden, bei der jeder weiß, dass Glücklichsein eher die Ausnahme ist.

Ich habe in den Pausen oder nach der Freilandarbeit Mittelstufenklassen viele Male danach gefragt, was denn bei der Gruppenarbeit mit ökologischen Aufgabenstellungen anders sei als in Schule. Hier einige Schüleräußerungen, die immer wieder in ähnlicher Weise geäußert wurden.

 

·        In der kleinen Gruppe kann ich spontan etwas sagen.

·        Wenn ich etwas sage, das scheinbar nicht zum Thema gehört,  fragen die anderen, wie ich gerade darauf komme, und dann ist es ok.

·        In der kleinen Gruppe hört mir jeder zu.

·        Wenn mich hier einer anschaut, kann ich klären warum.

·        Ich kann die anderen besser verstehen.

·        Es macht nichts, wenn mal einer dazwischen redet. Wenn es wichtig ist, kann man das aber auch sofort aufgreifen.

·        Ich muss nicht so laut reden, das war auch hier nie so laut.

·        Da ist niemand, der hinter mir irgend etwas macht, was mich nervt.

·        Wenn ich mich über einen anderen ärgere, können wir das gleich regeln und ich muß nicht mit meinem Groll die ganze Zeit direkt neben ihm sitzen und das Maul halten.

·        Ich fühle mich besser beachtet.

·        Hier wird nicht so viel geschleimt.

·        Hier weiß ich wenigstens, was ich erreichen will.

·        Ich kann jeden anschauen, mit dem ich gerade spreche, ich kann auch besser verstehen, was der sagt, weil er zu mir spricht und nicht zum Lehrer.

·        Hier hat keiner Blödsinn gemacht.

·        Hier konnte ich selbst die Tiere richtig bestimmen, die ich vorher nie gesehen habe, hätte ich nie gedacht.

·        Hier kann ich selbst viel mehr tun.

·        Wenn hier einer was Interessantes entdeckt, kann jeder sich das angucken.

Die Aussagen der Schüler haben so manchen der beteiligten Lehrer nachdenklich gestimmt.

In der Wirtschaft wird Teamarbeit auch deshalb eingeführt, weil dadurch die Zahl der Krankheitstage gesenkt wird.  

 

Es müsste daher untersucht werden, ob sich Schule der Körperverletzung schuldig macht.
 
Wenn es nämlich möglich ist, Schule so zu gestalten, dass Kinder (und Lehrer) weniger krank sind, ist meines Erachtens das derzeitige System unrecht. Die Frage, wieweit der ,,Dienstherr" somit den Lehrern gegenüber seine Fürsorgepflicht verletzt, soll zunächst nicht weiter verfolgt werden, es geht mir erst einmal um das Artikulieren eines Unrechtsbewusstseins unseren Kindern gegenüber, weil das mir zu schaffen gemacht hat, solange ich als Lehrer tätig war. Das war es, was mich krank gemacht hat. 

Als oberstes Lehrziel steht in den Rahmenrichtlinien die Erziehung zum mündigen Bürger. Glaubt man denn wirklich, dieses Ziel mit der gleichen Organisationsform erreichen zu können, die auch schon zu Kaisers und Hitlers Zeiten nicht viel anders war und die ursprünglich eingeführt wurde, um zu Gehorsam und Unterwerfung zu erziehen? In Gruppen mit 20 bis über 30 Schüler/innen kann sich der/die Einzelne nicht optimal entwickeln.  

Darüber hinaus wird die Entwicklung der Schüler in unseren Schulen geprägt durch eine einseitige Förderung der linken Hirnhemisphäre (Sprache, analytisches Denken, Aggression) bei gleichzeitiger Unterdrückung des rechten Hirns (Intuition, ganzheitliches Erfassen von Zusammenhängen). ("Denk nach, bevor du was sagst!")

 

Daher stellt sich für mich auch die Frage, wieweit Schule das Recht auf freie Persönlichkeitsentwicklung (Grundgesetz Art. 2, Abs. 1) beeinträchtigt. *

 
*
(Vgl.: Gerhard HUHN: Kreativität und Schule - Risiken der Lehrpläne für die freie Entfaltung der Kinder. Synchron Verlag, Berlin 1990)

 

Ein Kind ist angewiesen auf die liebevolle Förderung der eigenen Persönlichkeit durch Mitmenschen. Wenn wir ihm diese teilweise vorenthalten, weil wir andere Dinge für wichtiger erachten, machen wir uns ihm gegenüber schuldig. 

Nun ist es aber so, dass in jeder Klasse auch Kinder sind, die besonderer Hilfe bedürfen, weil sie außerhalb der Schule harte Erfahrungen machen mussten, die sie nicht selbst verarbeiten können. Schon im Vorschulalter kann z.B. eine Suchtdisposition festgestellt werden. Durch gezielte Hilfe im Vorschul- und Grundschulalter könnte so manche Drogenkarriere verhindert werden. Das gleiche gilt für andere schwere seelische Schäden durch Missbrauch, Deprivation oder Verwahrlosung: Durch frühes Erkennen und rechtzeitige Hilfe könnte viel Elend verhindert werden - Elend, das diese Kinder durchleben müssen, aber auch das Leid, das später diese Kinder ihren eigenen Kindern und ihren Mitmenschen zufügen.

 

Hier machen wir uns fortlaufend der unterlassenen Hilfeleistung schuldig,

 
wenn wir es zulassen, dass die Erzieher/innen und Lehrer/innen durch die Zahl der ihnen anvertrauten Kinder, aber auch von ihrem Ausbildungsstand, mit diesen Problemen ständig überfordert sind und den Kindern nicht die notwendige Hilfe geben können,

ihnen aber auch nicht die entsprechenden Fachleute zur Seite gestellt werden. (Ob nicht die Folgekosten der unterlassenen Hilfe höher sind als die Kosten für die Hilfe, müsste auch untersucht werden, mir geht es aber zunächst nicht um die Kostenfrage, sondern um die Unmenschlichkeit, die dahinter steht.)  

Wie unser Schulbetrieb die Kinder am Lernen hindert und in ihrer Entwicklung stört, möchte ich durch weitere Überlegungen deutlich machen. Wirklich effektiv lernen kann ein Mensch nur, wenn er sich wohl fühlt. Für Kinder in der Schule gehört dazu zuerst einmal die Sicherheit, von der Umgebung akzeptiert - emotional angenommen zu werden. In den üblichen Klassengrößen kann die Lehrkraft unmöglich allen Kindern ständig dieses Gefühl vermitteln.  

Auch die Vielzahl der Mitschüler ist eine ständige Belastung. Kein Kind kann überschauen, was mit den anderen gerade los ist. Es ist aber wichtig für jedes Kind, zu wissen, was die anderen im Moment von ihm halten, ob sie ihm wohlgesonnen sind, es ablehnen oder gar anfeinden. Jeder Mensch, aber ganz besonders ein Kind, braucht diese Orientierung im sozialen Umfeld, und die ist in der größeren Gruppe ungleich schwieriger, daher entstehen ständig Situationen, in denen es sich unsicher fühlt. Aus dieser Unsicherheit entsteht Resignation und Aggression. Somit ist die häufig beklagte Unruhe und mangelnde Konzentration in Schulklassen zu einem entscheidenden Teil durch die Organisation und nicht nur durch die veränderten Verhaltensweisen der Kinder bedingt.  

Damit die anderen Kinder arbeiten können, wird die Aggression meist unterdrückt (Ruhe ist die erste Schülerpflicht) und das aggressive Kind damit ins Unrecht gesetzt. Mit seinen  Gefühlen, die hinter der Aggression stehen, wird es fast immer allein gelassen. Die Gefühle sind nicht das, was abgelehnt werden muss, aber für das gemaßregelte und zur Ruhe gezwungene Kind muss das so aussehen, es fühlt sich als Person abgelehnt, wenn die Gefühle nicht akzeptiert werden.  Es lernt nicht, diese Gefühle anzunehmen und angemessen auszudrücken.  

Um das Kind, das seinen Ärger still in sich hineinfrisst, kümmert sich noch seltener jemand, das extrovertierte Kind wird wenigstens zurechtgewiesen und damit beachtet... Und dann wundem sich viele Leute über Gewalt an anderer Stelle... 

Nun sind die Sanktionen in den vergangenen Jahrzehnten weniger brachial geworden, und es gibt immer weniger Lehrer/innen und Eltern, die offen für die Prügelstrafe eintreten, aber das heißt noch lange nicht, dass das entsprechende Obrigkeitsdenken völlig aus unseren Köpfen verschwunden wäre. Es bedeutet auch nicht, dass es heutige Schüler wirklich besser hätten. Die Zunahme von Sachzerstörung und brutaler Gewalt deuten eher in eine andere Richtung. Es gibt auch Repressionen, die so subtil und freundlich vorgetragen werden, dass Schüler sich nur schwer offen dagegen wehren können.

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* Profitmaximierung hat einerseits zur Verlegung großer Teile der Produktion in Billiglohnländer geführt, in denen häufig viel unmenschlicher produziert wird, und auch in den Industrieländern ist durch Automatisierung und neue Formen der Arbeitsorganisation die Praxis meist wieder viel weniger menschlich.)