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Die gängigen Mittel von Lob und Tadel sind absolut zerstörerisch gegenüber den Motiven von Kindern, besonders der kleinsten, wenn das Kind etwas Nützliches tut, wie sich selbst anziehen oder den Hund füttern, ein Sträußchen Feldblumen hereinbringen oder aus einem Tonklumpen einen Aschenbecher machen, so kann nichts entmutigender sein als ein Ausdruck der Überraschung darüber, dass es sich sozial verhalten hat: „Oh, was für ein liebes Mädchen!", „Seht mal, was Stefanie ganz alleine gemacht hat!" und ähnliche Ausrufe deuten an, dass soziales Verhalten bei dem Kind unerwartet, uncharakteristisch und ungewöhnlich ist.

Sein Verstand mag sich darüber freuen, doch sein Gefühl wird voll Unbehagen darüber sein, dass es gegenüber dem von ihm Erwarteten, dem, was es zu einem wahren Bestandteil seiner Kultur, seines Stammes, seiner Familie macht, versagt hat.

Selbst bei Kindern untereinander wird ein Satz wie: „Mensch, guck mal, was die Vera in der Schule gemacht hat!", wenn er mit hinreichendem Erstaunen geäußert wird, der Vera ein unbehagliches Gefühl des Getrenntseins von ihren Spielkameraden vermitteln, gerade so, als hätten sie in demselben Ton gesagt: „ Mensch, die Vera ist aber dick!" - bzw. dünn oder lang oder klein oder tüchtig oder dumm, aber jedenfalls nicht so, wie man es von ihr erwartet hätte.

 Tadel, besonders wenn er verstärkt wird durch ein ,,Du-machst-das-immer''-Etikett, ist mit seiner Andeutung, dass antisoziales Verhalten erwartet wird, gleichfalls zerstörerisch. „Das sieht dir ähnlich, dein Taschentuch zu verlieren", „Der denkt nur an Unfug", ein resigniertes Schulterzucken, eine umfassende Anklage wie „Typisch Jungens", die impliziert, dass die Schlechtigkeit tief in ihnen drinsteckt, oder auch einfach ein Gesichtsausdruck, der anzeigt, dass ein schlechtes Benehmen keine Überraschung war, haben die gleiche verheerende Wirkung wie Überraschung oder Lob für ein Zeichen von Gemeinschaftsgeist.

Aus: Jean Liedloff: "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" S. 118