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Plädoyer für menschliches Lernen
Stellen
Sie sich vor, Sie lesen in Ihrer Freizeit interessiert in einem Buch.
Nach einer dreiviertel Stunde kommt jemand daher und sagt zu Ihnen:
"Leg das Buch weg, Du musst jetzt in meinem lesen!"
In der Schule passiert das fünfmal am Tag. In der Schule
werden
die Kinder in Klassen gepfercht, die viel zu groß sind, um
sich
darin einen halben Tag wohl fühlen zu können. Und sie
werden
von Lehrern unterrichtet, die (besonders in weiterführenden
Schulen) außer ihnen viel zu viele andere Kinder betreuen
müssen.
Lehrer sind daher prinzipiell überfordert, den einzelnen
Kindern
die Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, die sie brauchen. Ganz
besonders gilt dies für Kinder mit negativen Erfahrungen aus
dem
häuslichen Umfeld.
Es
entsteht für die Kinder immer wieder eine Situation, in der
sie
sich von den Lehrern zu wenig beachtet und gewürdigt
fühlen.
Aufgrund der Gruppengröße
können sie auch schlecht einschätzen, wie die
Mitschüler
im Moment zu ihnen stehen. Je nach ihrer Veranlagung und Vorerfahrung
inszenieren sie dann ihre Geschichte. Die einen "profilieren" sich
durch "auffälliges" Verhalten, die anderen ziehen sich
resigniert
in sich selbst zurück. Auf beide Verhaltensweisen
können viel
zu oft Lehrer nicht adäquat reagieren, weil sie zu viele
ähnliche Probleme gleichzeitig behandeln müssten.
Die
Gelegenheiten, dass ein Kind einfach einmal in den Arm genommen wird
oder für eine Weile ganz für sich einen
verständnisvoll
zuhörenden erwachsenen Partner findet, sind daher in der
Schule
viel zu selten. Häufig werden die (immer berechtigten)
Gefühle der Kinder ignoriert und nur auf das nicht tolerierbare
Verhalten reagiert. Wenn das dann so geschieht, dass sich das Kind in
seiner Person abgelehnt fühlt, ist die mögliche
Verhaltensänderung nur vordergründig und eher eine
Dressurleistung.
In unseren Schulklassen entsteht auf diese Weise ein eigenartiges Spannungsfeld zwischen Mitschülern und Lehrern, in dem Bildung (und auch Umweltbildung) nur begrenzt stattfinden kann. Es klappt allenfalls Wissensvermittlung und das Einüben bestimmter Fertigkeiten, aber selbst in diesen Bereichen sind die Resultate kaum zufriedenstellend. Es fehlt die menschliche Wärme, die Herzensbildung.
Die
weite Schere zwischen Wissen und Handeln ist somit zu einem Teil durch
die Rahmenbedingungen vorprogrammiert. Diese Diskrepanz wird noch
erheblich
verstärkt durch die vorherrschende Tendenz, die sprachlich
intellektuellen Leistungen der linken Hirnhälfte einseitig zu
fördern und zu belohnen, dabei aber
gleichzeitig die Leistungen der rechten Hemisphäre (z.B.
Spontaneität und Intuition) gering zu schätzen oder
gar zu
diffamieren. (Vgl.: G.Huhn, Kreativität und Schule)
Wenn es wirklich in Schule darum geht - und so lautet der offizielle Auftrag - Inhalte zu vermitteln und Verhaltensänderungen herbeizuführen, ist der übliche Unterricht in Klassen die falsche Organisationsform.
Nur
Menschen, die erfahren, dass sie in ihrer ganzen Person ernst genommen
werden, können sich selbst annehmen. Und nur wer sich selbst
ernst
nehmen kann,
wird ein rücksichtsvolles Verhalten gegenüber anderen
entwickeln.
Der Artikel wurde so gedruckt in: GEW Kreisverband Offenbach Stadt, Info 4, Oktober 2000