Forum |
Diesen
Bericht stelle ich deshalb auf diese Seite, weil er für
mich einerseits eine Arbeitsform darstellt, wie sie
für viele Schulen auch heute noch zur Verbesserung der Arbeit
an Projekttagen angewandt werden könnte, und andererseits,
weil darin Gedanken enthalten sind, die auch für noch freieres
Lernen Orientierung sein können.
Für mich waren solche Veranstaltungen auch deshalb wichtig, weil dadurch mein Unbehagen in der normalen Schule erklärbar wurde. Ich erlebte wenigstens an einzelnen Tagen, wie es hätte sein können...
|
|
Unterricht in kleinen Gruppen Montag, den 13. Juni, früh um 9 Uhr.
Eine Grundschullehrerin kommt mit ihrer Klasse zum Freilandunterricht
im ehemaligen Botanischen Garten Kassel an. Wildpflanzen sollen erlebt
und untersucht werden. Zunächst ist alles wie immer, wenn
über 20 Kinder zusammen sind. Einige Stimmen hört man
dominierend heraus. Einzelne drängeln sich vorlaut in den
Vordergrund, einige sind eher schüchtern am Rand. Hier und da
kleine Reibereien. Eine Gruppe von drei Schülern ist
beschäftigt mit den Fußballergebnissen vom
vergangenen Tag. Weil es aber einmal etwas anderes ist als der
übliche Unterricht in der Schule, sind die meisten gespannt,
was sie hier erwartet. Bei der Begrüßung werden den
Kindern zwei Studenten und eine ehrenamtliche Helferin des
Schulbiolgiezentrums vorgestellt. Die Kinder machen zunächst eine kleine
Frühstückspause, in der ich einer Mutter, die mit der
Klasse mitgekommen ist, die Arbeitsaufträge für die
Schüler und die entsprechenden Hilfsmittel kurz
erkläre. Das Konzept dazu war mit der Lehrerin an einem
Nachmittag erarbeitet worden. Nach der Pause werden die Kinder in Gruppen
aufgeteilt, jeweils 4 oder 5 Kinder in eine Gruppe mit einer
Begleitperson. Jede Gruppe soll verschiedene Stationen durchlaufen mit
unterschiedlichen Arbeitsaufträgen. Und recht bald ist das Verhalten der Kinder
ganz anders. Man hört es an den Stimmen. Da sind keine
schrillen Töne mehr. In einer Gruppe von 5 Kindern braucht
kein Kind den Kasper zu spielen, um überhaupt beachtet zu
werden. Wenn jedes Kind jedem ins Gesicht sehen kann, trauen sich auch
die schüchternen eher zu Wort. Die Arbeitsaufträge sind so, dass
jedes Kind selbst etwas tun kann. An einer Station werden
ausgewählte Pflanzen gesucht und gepresst. Jede Gruppe bekommt
dafür eine einfache Pflanzenpresse. Die Kinder erhalten
außerdem ein Arbeitsblatt mit den Abbildungen von acht
Pflanzen und die Begleitpersonen ein Bestimmungsbuch mit farbigen
Abbildungen, auf denen die Pflanzen den Kindern
noch einmal gezeigt werden können. Die
Kinder gehen nun selbst auf die Suche. Zuhören ist bald
ermüdend — nicht nur für Erwachsene. Wenn
ein Kind selbst sucht und Fragen stellen oder sich mit den anderen
darüber austauschen kann, erscheint jeder Lerngegenstand viel
interessanter. Und so werden hier die gleichen Pflanzen, die im
Klassenraum bald uninteressant erscheinen, mit viel Eifer gesucht,
untersucht und schließlich gepresst und beschriftet. Ein anderer Arbeitsauftrag ist es, eine Pflanze
möglichst genau zu zeichnen. Von der Biologischen Station
bekommt jedes Kind dazu ein Klemmbrett mit Papier. Auch diese stille
Aufgabe lösen fast alle mit viel Hingabe, was auch dadurch
begünstigt wird, dass hier jedes Kind sich seine Stelle zum
Zeichnen aussuchen kann. Im Klassenraum ist meist der Abstand zu
gering. Jeder Mensch braucht um sich herum seinem Raum. Wenn ich den
Nachbarn gar nicht richtig leiden kann oder heute mit ihm im Streit bin
oder mich über ihn geärgert habe, ist seine
verordnete Nähe am Schultisch eine unterschwellige
Belästigung, die in der Schule regelmäßig
zu zusätzlichen Spannungen führt. An einer anderen Station werden den Kindern von
stark riechenden Kräutern aus dem Kräutergarten
Geruchsproben in der Form gegeben, dass die Blätter zwischen
den Fingern zu kleinen Kügelchen gerollt werden die optisch
nicht mehr erkennbar sind. Nun müssen sie nach dem Geruch
wiedergefunden werden. Da gehen sie von einem Beet zum anderen, lesen
die Schilder und riechen an den verschiedensten Pflanzen, bis sie ihre
gefunden haben und holen sich, je nachdem, wie viel Spaß sie
an dieser Aufgabe haben, zwei , drei oder auch fünf oder sechs
weitere Geruchsproben. Nachdem sie an einigen gerochen haben, werden gemeinsam nach den Schildern die Pflanzen gesucht, die in der Volksmedizin gegen Erkrankungen der Atemorgane verwendet werden. Es sollen Pflanzen zur Zubereitung von Hustensaft gesammelt werden. Von jeder Pflanze wird ein Blatt gekostet. Danach wird entschieden, wie viel davon in unseren Hustensaft kommen soll,. bei bitteren Pflanzen wie Andorn oder Eberraute jeweils nur ein oder zwei Blättchen, bei milden wie dem Vogelknöterich oder der Königskerze können es mehr sein. So sammelt jedes Kind seinen Anteil von den Kräutern, mit denen am nächsten Tag in der Schule der Hustensaft hergestellt wird. (Ein konzentrierter Teeaufguss wird mit so viel Zucker versetzt, dass daraus ein Sirup wird.). Sie können sich vorstellen, dass dann jedes Kind stolz seine Kostprobe mit nach hause nimmt. Das Rezept zum Kräuterhonig findet man hier: Besonders beliebt bei den Kindern ist die
Station, an der "Fotos ohne Kamera" von den Pflanzen gemacht werden.
Sie sammeln Pflanzen, die ihnen gefallen, und legen sie zu einem Bild
zurecht. Wenn sie ihre Pflanzen so angeordnet haben, wie sie es sich
vorstellen, bekommen sie einen Bogen Lichtpauspapier, auf den die
Pflanzen genau in der Anordnung gelegt werden, wie sie es gerade
ausprobiert haben. Das muss möglicht schnell gehen, damit das
Papier nicht zu stark belichtet wird. Für die eigentliche
Belichtung wird eine Kunststoffscheibe auf die Pflanzen gelegt, damit
sie eng an das Papier angedrückt werden und scharfe Schatten
erzeugen. Nach etwa einer halben Minute sieht man, dass das zuvor
gelbliche Papier ganz blass wird. Nun wird es schnell in den
Entwicklungseimer mit Ammoniak gesteckt und der Deckel geschlossen.
Nach ein paar Minuten ist das Foto fertig, dunkelgrau auf hellgrauem
Grund ein Schattenriss der gesammelten Pflanzen, der besonders reizvoll
bei sehr filigranen Blättern und ausgeprägten Formen
der Blüten wird. So werden hier die Pflanzen mit allen Sinnen
erfahren. Durch die vielfältige Beschäftigung mit den
Pflanzen ist der Eindruck von diesen sehr viel einprägsamer
als im normalen Unterricht, in dem die kognitive Seite des Benennens
und Verstehens meist eindeutig überwiegt. Hier werden beide
Hirnhälften in gleicher Weise angesprochen und nicht nur der
Verstand in der linken Hirnhälfte. Ganz wichtig für die Beteiligung der
rechten Hirnhälfte ist die Arbeit in den kleinen Gruppen. Im
Klassenverband stören zu viele spontane
Äußerungen und müssen unterdrückt
werden. Die Assoziationen sind eben oft chaotisch und können
die Arbeitsatmosphäre in der Klasse ernsthaft
gefährden. In der Kleingruppe ist ganz einfach die Zahl der
spontanen Einfälle viel geringer. Sie stören hier
nicht mehr. Jedes Kind kann daher zunächst einmal reden, wie
ihm der Schnabel gewachsen ist. Die Auseinandersetzung mit dem
Gegenstand ist lebendig und kreativ. Skeptiker, denen aus der eigenen
Schulerfahrung diese Gedanken suspekt erscheinen, sollten einmal
erleben, wie gerade auf diese Weise das herkömmliche
schulische Lernen viel besser funktioniert. Nach einem solchen
Vormittag, können die Kinder mehr über die Pflanzen
erzählen und besser über sie reden als nach der
dreifachen Zeit im Klassenraum. Wichtig für die Kinder ist es auch,
dass hier nicht im 45-Minutentakt gelernt wird. Nach über 3
Stunden (mit Pause) sind sie überhaupt noch nicht
müde und möchten am liebsten noch hier bleiben. Hier
heißt es ja auch nicht nach einer Stunde: "So, jetzt leg mal
die Pflanzen weg, jetzt rechnen wir!" Dieser Rhythmus ist nur in der
unnatürlichen Situation der Schule denkbar. Er führt
aber auch dort zu immer wieder kehrenden Frustrationen. Stellen Sie sich einmal vor, sie lesen in ihrer
Freizeit in einem Buch, das Ihnen gefällt, und dann kommt nach
einer Dreiviertelstunde jemand daher und sagt: "Leg Dein Buch weg, Du
musst jetzt in meinem Buch lesen!" — und das fünfmal
an einem Vormittag! Die hier geschilderte Unterrichtsform in der
Biologischen Station ist nur möglich durch die Mitarbeit von
Laienhelfern. Auch bei älteren Schülern hat es noch
nie gestört, dass sie keine Fachleute sind. Im Gegenteil,
dadurch, dass sie selbst auch den Gegenstand sich erst erarbeiten
müssen, haben sie ganz häufig einen Forschungseifer,
der die Schüler ansteckt. Da werden Bücher oder
Bestimmungshilfen gewälzt, verglichen und diskutiert. Es wird
also selbständig gearbeitet, und die Schüler lernen
nicht nur etwas über den Gegenstand, sondern sie lernen auch,
wie die Information darüber selbständig eingeholt
werden kann. Das Lernen lernen! —
Und das geht erstaunlicherweise besonders gut, wenn
die Begleitpersonen keinen zu großen Wissensvorsprung haben.
Die Aufgabe des Fachlehrers ist es dann nur, für die einzelnen
Gruppen überschaubare und klare Arbeitsaufträge zu
erarbeiten und geeignete Hilfen zur Verfügung zu stellen.
Außerdem wird in der Biologischen
Station der Unterricht immer so organisiert, dass ich höchsten
am Anfang oder Ende einige Worte zum Thema sage, dann aber selbst keine
Gruppe übernehme, sondern für alle Gruppen bereit
stehe, um Hilfen zu geben, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Gerade in
solchen Situationen sind die Begleitpersonen eine sehr wichtige Hilfe.
Schüler kommen nämlich allein häufig nicht
damit zurecht, wenn sie nicht mehr weiter wissen und machen dann
spontan etwas ganz anderes — von außen gesehen ist
das oft Unfug. Eine erwachsene Begleitperson hilft ihnen,
Unsicherheiten anzunehmen und ganz gezielt Hilfen zu suchen. An diesem Vormittag ist es deshalb auch so,
dass sich in den einzelnen Gruppen ein ganz herzliches
Verhältnis zwischen den Kindern und den Erwachsenen ausbildet.
Am Ende höre ich in mehreren Gruppen, wie Kinder zu ihrer
Begleitperson sagen, dass sie sich freuen, gerade zu dieser in die
Gruppe gekommen sind, weil sie so nett sei. Nach drei Stunden (Mit
Pause) möchten die meisten überhaupt noch nicht nach
Hause. So habe ich das in Schule noch nie erlebt. Unser Schulsystem krankt meines Erachtens
daran, dass es zunächst davon ausgeht, was Kinder lernen
sollen und nicht davon, was Kinder brauchen. Jedes Kind hat ein natürliches Recht
auf einige Grundvoraussetzungen, die Schule erfüllen
müsste, wenn ihre Arbeit effektiv sein sollte.
Jedes Kind hat ein Recht darauf:
Je schlechter diese Grundvoraussetzungen
erfüllt werden, um so mehr wird Schule zu einer Anstalt, in
der oberflächlich einige Verhaltensweisen und Inhalte
andressiert werden, die aber vom Kind innerlich abgelehnt werden.
Wissen wird dann einfach vergessen, weil sein Erwerb mit negativen
Gefühlen verknüpft war. Das gewünschte
Verhalten wird dann nur unter Aufsicht reproduziert; sobald diese
fehlt, machen sich die vorher unterdrückten Gefühle
Luft und schlagen häufig in das Gegenteil um. Unser Schulsystem ist auch deshalb nicht
erfolgreich genug, weil es zu wenig Rücksicht darauf nimmt,
dass Lernen ein aktiver Prozess ist. Nur, wenn Kinder als
selbständig Handelnde lernen können, werden sie die
erlernten Inhalte und Verhaltensweisen auch
„behalten“. Besonders Umwelterziehung, die ja auf
Verhaltensänderung zielt, muss unter Bedingungen stattfinden,
unter denen sich jedes einzelne Kind angenommen fühlt.
Andernfalls erreicht sie vermutlich nur, dass die erschreckende
Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln verstärkt wird. (In
keiner Generation vor uns war das Wissen über die Natur so
umfangreich wie heute, aber auch das Ausmaß an
Zerstörung hatte noch nie zuvor ein so bedrohliches Tempo.)
Nur Menschen, die es erfahren, dass sie in
ihrer ganzen Person ernst genommen werden, können sich selbst
annehmen. Und nur, wer sich selbst ernst nehmen kann, wird ein
rücksichtsvolles Verhalten gegenüber Menschen, Tieren
und Pflanzen entwickeln. Rainald Irmscher, September 1994
|
Im Botanischen Garten |
Venusspiegel |
|
Beim Zeichnen |
|
Fotos ohne Kamera |
|
Orangenrotes Habichtskraut |
|
Zaunrübe |
|
Tag-Lichtnelke und Wiesen-Storchschnabel |
|
Löwenzahn |
|
Wiesen-Storchschnabel Die Fotos sind nicht am gleichen Tag gemacht worden. |