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"Verzeihen ist der Schlüssel zum Glück" 

Dieser Satz führt in die Irre. 

Es stimmt schon: Groll macht krank.

Aber glücklicher werde ich nicht durch das Verzeihen an sich. So einfach lässt sich unser Unterbewusstsein nicht täuschen.

Ich täusche mich selbst, wenn ich mir vornehme, meinen Eltern und Erziehern zu verzeihen, ohne wirklich zu wissen, und anzuerkennen, wie schlimm es damals war, beispielsweise als Säugling Todesangst zu haben im einsamen Kinderzimmer, weil Verlassensein für unsere Vorfahren in dem Alter tödlich war; oder ohne zu wissen, wie ich gelitten habe unter der Einengung durch Wickeltücher oder unter der Prügel des Vaters oder unter der Gefühlskälte der Mutter... oder was immer für mich seinerzeit sehr schlimm war.

So lange ich mich verschließe, wenn ich ein Kind weinen oder auch kreischen und toben höre und nicht mitfühlen kann, wie viel echtes Leid dieser junge Mensch erlebt ( erinnert ) und in diesem Augenblick ausdrückt, habe ich kaum Zugang zu dem selbst als Kind erfahrenen Leid. Die Spiegelzellen in meinem Gehirn ermöglichen es mir, mich in das Gefühl des Gegenübers hinein zu versetzen. Das geht natürlich nur, wenn ich es zulassen kann, diese Gefühle wahrzunehmen und nicht, wenn ich gelernt habe, diese Gefühle völlig zu unterdrücken und dann so zu tun, als wären sie überhaupt nicht da. 

Ich kann glücklicher werden, wenn ich herausfinde, wie ich zu dem Menschen geworden bin, der ich bin. Denn in meinem Körper ist das das Wissen um das Leid des kleinen Kindes gespeichert. Es bedingt all die Verbiegungen (Ersatzhandlungen, Süchte, Zwänge, Ängste, Übererregbarkeiten, Gefühlsblindheit und auch Krankheit...) unter denen ich heute leide.

Ich kann glücklicher werden, wenn ich Stückchen für Stückchen dahinterkomme, wie ich verbogen worden bin. Ändern kann ich mich, wenn ich dann die eigenen Verbiegungen als verständliche Reaktion* des kleinen Kindes von damals anerkennen kann. 

* Vielleicht sogar die beste Reaktion auf die Verrücktheiten, denen ich ausgeliefert war.

Ich kann heilen, wenn ich das herausfinde, und auch die alten Gefühle immer besser wahrnehmen kann, die fast unendliche Traurigkeit und die schutzlose Bedürftigkeit des Säuglings erahnen kann, die Verzweiflung und die Wut von damals spüren und anerkennen kann ( und vielleicht auch  im geeigneten Rahmen herausbrüllen und toben darf, damit ich sie wirklich kenne und diese verdrängten Gefühle nicht immer wieder unbewusst der Antrieb für mein heutiges Handeln sind  [vergl. auch hier] ). 

Dadurch kann ich heiler, gesünder und vielleicht auch glücklicher werden.

Wenn ich so weit bin,
aber erst dann,
kann ich wirklich verzeihen.
Aber das ist dann nur noch nebensächlich.

Das Verzeihen ist dann Nebensache, denn wenn ich das Kind von damals mit all seinen Gefühlen und Ängsten annehmen kann und ich die Ängste und den Zorn nicht mehr verdrängen muss, gibt es auch keinen Groll mehr, der mir oder anderen schaden könnte.

Für diese Arbeit, herauszufinden, wer ich wirklich bin und wie ich so geworden bin, ist es gut, kompetente Hilfe zu haben. 

 

Wobei ein Universitätsstudium nicht unbedingt die Voraussetzung für einen kompetenten Helfer ist,

 aber auch nicht immer ein Hindernis.

 

In ihrem Buch: "Die Revolte des Körpers" kommt Alice Miller zu dem gleichen Schluss:

Ich habe mich lange mit der Frage befasst, weshalb manche Menschen ihre Therapien als erfolgreich bezeichnen konnten und andere trotz jahrzehntelanger Analysen oder Therapien in ihren Symptomen steckengeblieben sind, ohne sich von ihnen befreien zu können. In jedem positiv verlaufenen Fall musste ich feststellen, dass Menschen sich aus der destruktiven Bindung des misshandelten Kindes lösen konnten, wenn sie eine Begleitung bekamen, die es ihnen ermöglichte, ihre Geschichte zu finden und ihre Empörung über das Verhalten der Eltern zu artikulieren. Als Erwachsene konnten sie ihr Leben freier gestalten und brauchten ihre Eltern nicht zu hassen. Nicht aber die Menschen, die in ihren Therapien zur Vergebung angehalten wurden und daran glaubten, dass das Verzeihen tatsächlich einen Heilerfolg herbeiführen könnte. Diese blieben in der Position des kleinen Kindes gefangen, das seine Eltern zu lieben meint, sich aber im Grunde von den verinnerlichten Eltern weiterhin sein Leben lang kontrollieren und (in Form von Krankheiten) zerstören lässt. Eine solche Abhängigkeit begünstigt den Hass, der zwar verdrängt, aber dennoch aktiv bleibt und zu Aggressionen gegen Unschuldige treibt. Wir hassen nur, solange wir uns ohnmächtig fühlen.

Alice Miller: „Die Revolte des Körpers“, 1. Aufl. 2004, S. 81/82

zuletzt bearbeitet 2. 10. 2012