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Aus "Gefangen im Schmerz" von Arthur Janov (1980)

Bedürfnisgeschöpfe

Bedürfnis ist die Grundlage sowohl von Gesundheit als von Neurose. Jede Zelle unseres Körpers hat Bedürfnisse. Bedürfnis ist ein Totalzustand des menschlichen Daseins – und zum Zeitpunkt der Geburt bestehen wir fast nur aus Bedürfnissen. Zu ihrer Erfüllung muß sich der hilflose Säugling an seine Eltern wenden. Er kann sich nicht selbst füttern, säubern und warmhalten. Er kann sich in keiner Weise selbst erhalten. Er kann die Bedürfnisse nicht selbst befriedigen. In nahezu jeder Sekunde seines Lebens steht seine Existenz auf dem Spiel.

(...Auslassung...)

Der Säugling hat ein Gefühl für das Geschehen, auch wenn es nicht erklärt werden kann. Später wird diese »Empfindung« zu einem Begriff ausgearbeitet. Er empfindet, wenn ihm unwohl ist. Das Baby ist sich seiner Welt sehr intensiv bewußt. Wenn es seine Wahrnehmungen zu einem Ganzen zusammenfassen soll, muß die Umwelt, die ihm seine Eltern schaffen, auf physische Art und Weise »Sinn haben«. Wenn er schreit, weil ihm nicht wohl ist, sollte er hochgenommen und beruhigt werden. Unterläßt man das, hat die Welt des Kindes keinen Sinn.

Und wenn die Bedürfnisse immer wieder ignoriert werden und das Kind zudem womöglich noch bedroht und misshandelt wird, kann das Baby nur überleben, wenn es seine Empörung, seine Wut, seine Angst und seine Traurigkeit "abstellt", wenn es diese Gefühle überhaupt nicht mehr wahr nimmt - verdrängt ... (R. I.)

Dazu Javov (S.26 -27)

Wenn ein Schmerz in früher Kindheit in seiner ganzen Intensität zum Zeitpunkt des Geschehens gefühlt wird, wird er nicht zu einer unbewußten Macht, es entsteht keine Neurose. Doch bei zuviel Urschmerz ist das Kind barmherzigerweise dem Unbewußten überlassen. Diese Gnade hat einen Preis. Der Schmerz wird verdrängt, verbleibt aber im Organismus des Kindes, gerade weil er zu überwältigend war, um erlebt, erledigt und verstanden werden zu können. Der Urschmerz gewinnt ein eigenes Leben, außerhalb des Bewusstseins und übt eine fortwährende Macht aus. Bleibt er ungefühlt, fordert er endlosen Tribut. Obwohl Verdrängung eine schützende Funktion hat, beginnt sie auch zu zerstören.
Verdrängung ist kein wohlüberlegter geistiger Trick; sie ist eine Reaktion des gesamten Organismus. Sie ist etwas, das Gehirn und Körper zusammen durchführen, um schmerzhafte Erfahrungen abzuwenden, besonders wenn wir sehr jung und nahezu vollkommen verwundbar sind.

Für den Beginn einer Verdrängung existieren so viele Szenarien, wie es Menschen gibt. Stellen wir uns vor, ein sehr kleines Kind beobachtet seine Mutter, wie sie seinem älteren Bruder wegen eines kleinen "Vergehens" eine Tracht Prügel verabreicht. Die Mutter ist irrational und gewalttätig. Das Kind nimmt wahr, dass sie im Falle einer Provokation gefährlich sein kann. Wäre dies eine bewusste Einsicht, sie wäre niederschmetternd. Sie ist es jedoch nicht. Wie der größte Teil elterlichen Verhaltens sind die Prügel keine ungewöhnliche Sache, sondern vereinbar mit der Realität, welche die Mutter dem Kind seit seiner Geburt vermittelt hat: nicht nur, dass sie nicht in der Lage ist, sich um es zu kümmern und ihm zu geben, was es braucht, sondern dass sie sogar eine Gefahr für es darstellen kann.
Dies sind überwältigende Deprivationen. Sie sind zu schwer, um von einem kleinen Kind ertragen werden zu können. Wenn es in einem unsicheren, unbefriedigenden Milieu überleben will, kann es sich nicht leisten, seine wahren Bedürfnisse zu fühlen oder sogar zu zeigen. Während es das Prügeln beobachtet, passt es sich seiner Situation an.
Die »Gabe« des Verdrängens, eine Anpassungsreaktion unserer Gattung, besteht darin, dass sie die Schärfe und Wucht des Urschmerzes mildert, so dass das Kind ohne
sichtbare Reaktion zusehen kann. Es hat den Schmerz dessen, was es miterlebt, verdrängt, und mit dem Schmerz verdrängt es sein Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit, Wärme ... nach einer Mutter. Es wäre nicht fähig, diesen Bedürfnissen zu begegnen, ohne sich zuerst mit dem katastrophalen Schmerz zu befassen, der durch ihre Deprivation entstanden ist.

JIM:  Kurz bevor meine Mutter starb, erzählte sie mir, dass sie und mein Vater über die Tatsache gesprochen hätten, dass ich mir in meinem ganzen Leben nie etwas gewünscht habe. Sie erzählte es mit Stolz und Erstaunen. Als ich klein war, gab es aber doch so vieles, was ich furchtbar gebraucht und mir gewünscht habe... Als ich erst alt genug war, um darum bitten zu können, hatte ich es aufgegeben, mir etwas zu wünschen.

geändert  am  5. Januar  20012