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Ich hätte schreien können
In den Jahren 1989 bis 2001 hatte ich vielfach
die Gelegenheit, mit engagierten Kollegen und Kolleginnen
Unterrichtsprojekte zu planen und durchzuführen, wie es sonst
kaum möglich ist. Die Erfahrungen bei den Projekten waren so schön, dass ich an dieser Stelle noch einmal davon berichten möchte. Projektwoche
am Bach Montag, den 13. Mai, früh um 8 Uhr.
auf dem Schulhof wartet eine Grundschullehrerin dass ihre dritte Klasse
sich sammelt. Heute beginnt die Projektwoche, in der der Bach an der
Schule untersucht werden soll. Zunächst ist alles wie immer, wenn
über zwanzig Kinder zusammen sind. Einige Stimmen
hört man dominierend heraus. Einzelne drängeln sich
vorlaut in den Vordergrund, einige sind eher schüchtern am
Rand. Hier und da kleine Reibereien. Eine Gruppe von drei
Schülern ist beschäftigt mit den
Fußballergebnissen vom vergangenen Tag. Weil es aber einmal
etwas Anderes ist als der übliche Unterricht in der Schule,
sind die meisten gespannt, was sie erwartet. Bei der
Begrüßung werden die Kinder in Gruppen aufgeteilt,
jeweils fünf Kinder in eine Gruppe mit einer Begleitperson,
die während dieser Woche jeweils eine Schülergruppe
betreuen wird (zwei Studenten, eine ehrenamtliche Helferin und zwei Schülermütter). Das Konzept
dazu war zusammen mit der Klassenlehrerin an mehreren Nachmittagen erarbeitet
worden. Am ersten Tag soll der Quellbereich des Baches untersucht werden. Die meisten Kinder wissen ja gar nicht, wie schön ihr Bach an seinem Oberlauf ist. Auf diese landschaftliche Schönheit wird nicht besonders hingewiesen, aber sie soll erlebt werden können, weil das Wissen darum notwendig ist für die emotionale Beteiligung an diesem Projekt. Mit dem Bus fahren alle bis an den Stadtrand und arbeiten nun in den kleinen Gruppen. Und recht bald ist das Verhalten der Kinder
ganz anders. Man hört es an den Stimmen. Da sind keine
schrillen Töne mehr. In einer Gruppe von fünf Kindern
braucht kein Kind den Kasper zu spielen, um überhaupt beachtet
zu werden. Wenn jedes Kind jedem ins Gesicht sehen kann, trauen sich
auch die schüchternen eher zu Wort. Und wenn in der kleinen
Gruppe ein Kind abschweift zur Fernsehsendung vom Vortag, ist das hier
überhaupt kein Problem. Jede Gruppe hat ihr eigenes Programm. Ich war
nur am ersten Tag selbst dabei. Von diesem möchte ich hier
berichten. Die Arbeitsaufträge sind so, dass
jedes Kind selbst etwas tun kann. An einer Station werden die Tiere im
Bach untersucht. Zuerst wird den Kindern gezeigt, dass die meisten
Tiere unter den Steinen zu finden sind und wie man mit einem
Küchensieb auch die Tiere auffängt, die beim Hochheben des Steins fortgeschwemmt werden. Die Kinder gehen nun selbst
mit großem Eifer auf die Suche – das Jagdfieber hat
sie gepackt. Nach einer Weile haben sie ganz viele Tiere in
ihren weißen Plastikschalen. Sie beobachten sie, laufen zu
den anderen um zu schauen oder ihnen „ihr“ Tier zu
zeigen. Nebenbei wurde ihnen der Gebrauch von Lupendosen gezeigt, in
denen sie ihren eigenen „Kleintierzoo“
sammeln. Zur Bestimmung zeichnen sie zunächst ein Tier. Dazu erhalten sie sechs Beobachtungsaufträge, die ihnen helfen, genau hinzuschauen: -
aus wie vielen Abschnitten besteht der
Körper? -
wie viele Beine hat das Tier? -
wie viele Gelenke kann man an den Beinen
erkennen? -
was fällt am Kopf auf? -
welche Besonderheiten hat das
Körperende? - was fällt sonst noch auf? Die Strichzeichnungen gelingen mit diesen Fragen so, dass die wesentlichen Merkmale deutlich sind. Sicher können Sie sich vorstellen, wie stolz die Schüler sind, wenn ich als „Experte“ ihre Zeichnung erkenne und ihnen sage: „Da hast du eine Eintagsfliegenlarve gezeichnet.“ oder „das ist ein Bachflohkrebs.“ die Drittklässler können danach ihre Tiere mit der Bestimmungshilfe meist selbst bestimmen. Bloßes
Zuhören ermüdet Zuhören ist bald ermüdend
– nicht nur für Erwachsene. Wenn ein Kind selbst
sucht und Fragen stellen oder sich mit den anderen darüber
austauschen kann, erscheint jeder Lerngegenstand viel interessanter.
Und so werden hier die gleichen Tiere, die im Lehrbuch bald
uninteressant erscheinen, mit viel Eifer gesucht, beobachtet,
untersucht und schließlich bestimmt. In der kleinen Gruppe bekommt jedes Kind
genügend Hilfe, die Aufgabe selbst zu erledigen. Die kleinen
Tricks mit dem Sieb oder wie man die Tierchen unverletzt aus der
Plastikwanne fängt, bekommt hier jeder mit. Und so bekommt
jedes Kind ein gutes Ergebnis, auf das es ein wenig stolz ist und das
es mitnehmen kann nach Hause. Angenehm ist auch, dass sich hier jedes Kind
seinen Platz zum Zeichnen in der freien Natur aussuchen kann. Im
Klassenraum ist meist der Abstand zu gering. Jeder Mensch braucht um
sich herum seinem Raum. Wenn ich den Nachbarn gar nicht richtig leiden
kann oder heute mit ihm im Streit bin oder mich über ihn
geärgert habe, ist seine verordnete Nähe am
Schultisch eine unterschwellige Belästigung, die in der Schule
regelmäßig zu zusätzlichen Spannungen
führt. Hier werden die Tiere mit allen Sinnen
erfahren. Eine Gruppe hat sogar Tiere aus Plastilin nachgeformt
für die Ausstellung am Schluss der Projektwoche. Durch die
vielfältige Beschäftigung mit den Tieren ist der
Eindruck von diesen sehr viel einprägsamer als im normalen
Unterricht, in dem die kognitive Seite des Benennens und Verstehens
meist eindeutig überwiegt. Hier werden beide
Hirnhälften in gleicher Weise angesprochen und nicht nur der
Verstand. Ganz
wichtig für die Beteiligung der rechten Hirnhälfte
ist die
Arbeit in den kleinen Gruppen. Im Klassenverband stören zu
viele
spontane Äußerungen und müssen teilweise
unterdrückt werden. Die Assoziationen sind eben oft chaotisch
und
können die Arbeitsatmosphäre in der Klasse ernsthaft
gefährden. In der Kleingruppe ist ganz einfach die Zahl der
spontanen Einfälle geringer. Sie stören hier nicht
mehr.
Jedes Kind kann daher zunächst einmal reden, wie ihm der
Schnabel
gewachsen ist. Die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ist lebendig
und kreativ. Skeptiker, denen aus der eigenen Schulerfahrung diese
Gedanken suspekt erscheinen, sollten einmal erleben, wie gerade auf
diese Weise das herkömmliche schulische Lernen viel besser
funktioniert. Nach einem solchen Vormittag, können die Kinder
mehr
über die Pflanzen erzählen und besser über
sie reden als
nach der dreifachen Zeit im Klassenraum. Im dritten Jahr nach dieser Projektwoche hatte ich Gelegenheit in einer Stunde mit fünf Schülern aus dieser Klasse zu sprechen, die jetzt im Hauptschulzweig waren. Sie waren erfreut, mich wieder zu sehen und ich stellte eher scherzhaft die Frage, ob sich einer von ihnen erinnern könnte, welche Tiere im sauberen Bach vorkommen. Einer antwortete gleich: „Die haben drei Schwänze.“ und der nächste sagte: „Eintagsfliegenlarven.“ Und dann sagte der Erste: „Es gibt auch welche mit zwei so Spitzen am Schwanz.“ Und der Dritte erinnerte sich: „Da sind auch solche, die immer paarweise herumschwimmen, so auf der Seite.“ Und einer sagte auch: "Hier bei uns an der Schule ist das Wasser so grau, da leben ganz andere Tiere drin." Ich war perplex. Nach drei Jahren hätte ich im Gymnasium wohl weniger an Antworten bekommen. Der
Unsinn des 45-Minutentaktes Wichtig
für die Kinder ist es auch,
dass hier nicht im 45-Minutentakt gelernt wird. Nach über drei
Stunden (mit Pause) sind sie überhaupt noch nicht
müde und möchten am liebsten noch hier bleiben. Hier
heißt es ja auch nicht nach einer Stunde: "So, jetzt leg mal
deine Zeichnung weg, jetzt rechnen wir!" Dieser Rhythmus ist nur in der
unnatürlichen Situation der Schule denkbar und ein Versuch, trotz der
Ermüdung durch das Zuhören, erneut Aufmerksamkeit für einen anderen
"Stoff" zu erhalten. Eine Manipulation, die verbunden ist mit immer
wieder kehrenden Frustrationen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie lesen in ihrer
Freizeit in einem Buch, das ihnen gefällt, und dann kommt nach
einer Dreiviertelstunde jemand daher und sagt: "Leg dein Buch weg, du
musst jetzt in meinem Buch lesen!" – und das fünfmal
an einem Vormittag! Die hier beschriebene Unterrichtsform in Gruppen ist nur möglich durch die zusätzliche Mitarbeit von Laienhelfern. Auch bei älteren Schülern hat es noch nie gestört, dass sie keine Fachleute sind. Im Gegenteil, dadurch, dass sie selbst den Gegenstand sich auch erst erarbeiten müssen, haben sie ganz häufig einen Forschungseifer, der die Schüler ansteckt. Da werden Bücher oder Bestimmungshilfen gewälzt, verglichen und diskutiert. Es wird also selbständig gearbeitet, und die Schüler lernen nicht nur etwas über den Gegenstand, sondern sie lernen auch, wie die Information darüber selbständig eingeholt werden kann. Das Lernen lernen! – und das geht erstaunlicherweise besonders gut, wenn die Begleitpersonen keinen zu großen Wissensvorsprung haben. Die Aufgabe des Fachlehrers ist es dann nur, für die einzelnen Gruppen überschaubare und klare Arbeitsaufträge zu erarbeiten und geeignete Hilfen zur Verfügung zu stellen. Soziales Lernen - repressionsfrei Ein wesentlicher Schwerpunkt bei dieser Projektwoche ist das soziale Lernen. In der kleinen Gruppe haben die Kinder eher die Möglichkeit, Konflikte selbständig zu lösen, wenn die Betreuer sich weitgehend darauf beschränken, den Kindern ein Spiegel zu sein und kleine Hilfen zu geben. Die Betreuer können sich in der
kleinen Gruppe besser auf die Konfliktpartner konzentrieren, ohne dass
sie in der Klasse für Ruhe sorgen müssen. Dazu ein Beispiel: Die drei Mädchen
der Gruppe sind noch mit ihren Tierchen beschäftigt und haben
viele Fragen an mich. Die beiden Jungen bauen hinter einem Busch einen
Damm im Bach. Ich kann sie nicht sehen, aber ich höre, wie
einer (ich nenne ihn hier Hans) immer wieder stichelt und etwas
ironische Bemerkungen macht. Der andere wird ganz schweigsam.
Plötzlich kommt Hans weinend zu mir gelaufen und beklagt sich:
„Der Karl hat mich gehauen!“ Ich gehe mit ihm zu
Karl und sage fragend: „Du weißt warum Karl dich
geschlagen hat?“ Karl antwortet schneller: „Der hat
so gemeine Sachen gesagt.“ Ich bitte ihn zu warten, bis er
dran ist und wende mich wieder Hans zu. Der nickt nur betroffen und
hört auf zu weinen. Dann frage ich Karl: „Hast du
nicht gemerkt, dass dich das ärgert bevor du ihn geschlagen
hast?“ Jetzt nickt Karl betroffen. Ich frage dann weiter:
„Was hättest du vorher tun können, bevor du
so wütend wurdest und ihn geschlagen hast?“ Karl
überlegt eine Weile und ruft selbst etwas überrascht:
„Ich hätte laut schreien können.“
Ich bestätige: „Ja, das wäre eine
Möglichkeit gewesen,“ und bitte Hans, sich
für seine Bemerkungen zu entschuldigen und Karl
dafür, dass er so lange gewartet hat und dann gleich
geschlagen. Beide können darauf eingehen und den Rest des
Vormittags gut zusammenarbeiten. Am Ende höre ich in mehreren Gruppen,
wie Kinder zu ihrer Begleitperson sagen, dass sie sich freuen, gerade
zu dieser in die Gruppe gekommen sind, weil sie so nett sei. Nach
fünf Stunden (mit Pause) möchten die meisten
überhaupt noch nicht nach Hause. So habe ich das in Schule noch nie erlebt. Fast überwältigt war ich auch
bei der Ausstellung am Schluss der Woche. Eine solche Fülle
und Dichte hätte ich nicht erwartet:
so viel können 25 Kinder in einer Woche schaffen, wenn sie optimal angeleitet und begleitet werden.
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Auf dem hellen Untergrund der Plastikschale kann man die Tiere gut erkennen, hier eine Wasserassel. |
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