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Aus dem Gefängnis der Verwirrung

Die erste Erfahrung der Schweigemauer machte ich in meiner Kindheit. Meine Mutter pflegte mich tagelang anzuschweigen, um mir auf diese Weise ihre absolute Macht zu demonstrieren und meine Folgsamkeit zu erzwingen. Sie benötigte diese Macht, um ihre eigene Unsicherheit vor sich selbst und vor den anderen zu tarnen aber auch, um sich der Beziehung mit ihrem Kind, das sie niemals wollte, zu entziehen. Die Bedürfnisse, Fragen, Angebote des kleinen Mädchens prallten an dieser Mauer ab, ohne dass meine Mutter sich für diese Grausamkeit zu verantworten brauchte, denn sie definierte ihr Verhalten als eine gerechte, weil verdiente Strafe für begangene Vergehen, als ihre Pflicht, mir eine »Lektion« zu erteilen.

Es war schwer für dieses Kind, das lange keine Geschwister hatte, dessen Vater es nie in Schutz nahm und selten zu Hause war, das lange und konsequente Schweigen der Mutter auszuhalten. Aber noch quälender als das Schweigen selbst war die permanente, hoffnungslose Anstrengung des Kindes, den Grund der Bestrafung endlich herauszufinden. Ähnlich wie in Kafkas Strafkolonie wurde nämlich der kleinen Angeklagten ihr Vergehen überhaupt nicht erläutert. Diese Unterlassung enthielt die Botschaft: Wenn du nicht einmal weißt, womit du die Strafe verdient hast, bist du ja ohne Gewissen. Suche, forsche, strenge dich an, bis dein Gewissen dir sagt, welche Schuld du auf dich geladen hast. Erst dann kannst du versuchen, dich zu entschuldigen, und wenn du Glück hast, wird dir verziehen.

Habe ich gewusst, dass mein Leben in einem totalitären Regime begann? Wie hätte ich es wissen können? Das hätte ich niemals zu denken gewagt. Eher zweifelte ich an der Richtigkeit meines Gefühls, ungerecht behandelt und missachtet zu werden, als dass ich meine Mutter in Frage gestellt hätte. Zudem kannte ich keine anderen Mütter, konnte keine Vergleiche anstellen. Da sich meine Mutter als aufopfernd und pflichtbewusst ausgab und es auch war, meinte ich, dass mir nichts fehlte. Dass ihr Herz eingesperrt war, verstand ich viel später. 

Also konnte nur meine Bosheit schuld daran gewesen sein, meinte ich, wenn Mama nicht mit mir sprach, meine Fragen unbeantwortet ließ, meine Bitten um Erklärung ignorierte, meinen Blicken auswich und meine Liebe mit Kälte erwiderte. Wenn Mama mich hasst, muss ich doch hassenswert sein, denkt ein Kind.

 

aus: Alice Miller: Abbruch der Schweigemauer, Suhrkamp Taschenbuch 3497, S. 31 - 32


Andere Mütter und Väter haben mit der gleichen Unerbittlichkeit ihre Kinder angeblich zu derem Guten geprügelt, in Keller gesperrt, hungrig ins Bett geschickt...
oder deren Gefühle "nur" lächerlich gemacht...
oder oder oder ...

Einen kleinen Eindruck vermittelt auch die Sammlung von Mamma-Sprüchen

Dieser Umgang mit Kindern hat eine alte Tradition, wie dieser Text aus dem 18. Jahrhundert zeigt:

„Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben“

 (Johann Georg Sulzer : Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748)

noch etwas mehr von Sulzer findest du hier: Sulzer-Kleinkindererziehung.htm

 

Sulzer irrte allerdings, wenn er glaubte, Menschen würden das alles vergessen, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Sie verdrängen es und können es nicht bewusst erinnern. Aber in unserem Gehirn ist es größtenteils ganz zentral gespeichert im limbischen System. Wohl nicht mit so vielen fotografischen, akustischen etc. Einzelheiten wie spätere, bewusste Erinnerungen. Aber immehin so komplex, dass diese Erinnerungen einen wesentlichen Teil der gefühlsmäßigen Orientierung darstellen. Auf der Grundlage der verdrängten Erinnerungen entscheiden wir viel mehr als uns das bewusst ist. Wir sagen dann: Das habe ich aus dem Bauch heraus entschieden. In Wirklichkeit haben wir es aber auf der Grundlage unserer Erfahrungen in der Kindheit entschieden. Das meiste entscheiden wir so und unser Verstand findet im Nachhinein eine plausible Erklärung, ohne wirklich zu wissen warum wir uns so entschieden haben. 

Dazu passt die viel zitierte Beobachtung von Wilder Penfield, der in den Jahren nach 1940 vielfach Operationen am offenen Gehirn vornahm. Auf der Suche nach einem epileptischen Herd kam er mit seiner Sonde an eine Stelle, deren Berührung den Patienten dazu veranlasste, den Arm zu heben, der Patient war dabei bei vollen Bewusstsein, weil im Gehirn keine Schmerzrezeptoren sind. Der Patient war keinesfalls irritiert. Auf die Frage, warum er den Arm gehoben habe, sagte er: "weil ich es wollte."

Ähnlich findet unser Verstand allemal eine Erklärung für alle unserer Handlungen, ohne dass wir mit dem Tagesverstand wirklich wissen, warum wir so gehandelt haben.